Der Maler Gerhard Silber

Die Szene ist entsetzlich – oder doch eher belustigend? Unterhaltsam, Heiterkeit erregend, Neugierde befriedigend oder doch eher uninteressant? Die eigenen Emotionen aufwühlend oder eher völlig kaltlassend? Das Merkwürdige: der Maler zeigt es nicht, das eigentliche Thema existiert nicht auf dem Bild. Der Betrachter befindet sich mit dem Rücken zu den Ereignissen, sie liegen hinter und über ihm. Was er sieht, sind die Personen, die dorthin schauen, die Gesichter lachend, nachdenklich, entsetzt, gelangweilt, begeistert. Gerhard Silber zeigt uns nicht das Ereignis, sondern die Reaktionen, die es bei den Menschen auslöst. Er zeigt nicht das Geschehen, sondern die Reaktionen der Betrachter. Sie sind ihm wichtiger, als das zu Betrachtende. Nicht die Realität sucht Gerhard Silber darzustellen, sondern die diese Realität Wahrnehmenden, sie erscheinen ihm authentischer als die Realität selbst. Die Bilder vermitteln also keine Realität, obwohl sie „gegenständlich“ gemalt sind. „Die Welt wird nur in der Wahrnehmung wirklich“, sagt der Kunsttheoretiker Herbert Albin Knops. In der Wahrnehmung jeder einzelnen Person. Es gibt also keine allgemeingültige „Realität“. Zur Wirklichkeit wird sie nur für jeden Einzelnen in seiner Wahrnehmung, also in dem, was er für „wahr – nimmt“.

Gerhard Silber wendet sich also der „richtigeren“ Seite zu, den Wahrnehmenden, die in der Summe der subjektiven Reaktionen der Wirklichkeit näher kommen. Gerhard Silber ist Künstler und Wissenschaftler in einer Person, beide Bereiche agieren nicht vor- oder nachrangig. Sie begründen sich aus der identischen Methodik beider Bereiche. Das Zeichensystem der bildhaften Gestaltung versucht in gleicher Weise, noch zu erforschende Sachverhalte durch die Realisierung im Bild in den Nahbereich der menschlichen Wahrnehmung zu bringen, was die Naturwissenschaften auf ihre Weise ebenso tun. Für diese Identität bietet der Maler Gerhard Silber einen überzeugenden Nachweis. Er gibt der realistischen Malerei einen neuen, eigenen Impuls.

Prof. Dieter Crumbiegel
Mai 2021

 

Gerhard Silber

Was ist das für ein Wissenschaftler, der nicht daran glaubt, dass die Wissenschaft die Welt erkennen und erklären kann? In jedem Falle ein sehr (selbst)kritischer. Als Ingenieur und Künstler nähert sich Gerhard Silber der Welterkennung von zwei Seiten: von der technischen als Professor für Mechanik und von der künstlerischen als Maler. Der Maler Gerhard Silber widmet sich vor allem der Darstellung des Menschen in sozialen Situationen. Sein Antrieb ist das Unbehagen, die Entrüstung. Ereignisse, die sein Unverständnis auslösen, treiben ihn an, Menschen darzustellen, die in irgendeiner Form von diesem Ereignis betroffen sind.

Gerhard Silber malt Menschen, aber ohne Porträtist oder Historienmaler zu sein. Zumindest treten die Geschichte oder der Kontext nicht explizit in Erscheinung. Das Fehlen eines historischen Kontextes bedeutet aber nicht, dass die Dargestellten dem Betrachter nichts erzählen. Sie treten als Beobachter eines Ereignisses auf, das der Bildbetrachter nicht sieht und von dem er bei den meisten Arbeiten – beispielsweise über den Bildtitel – auch nichts erfährt. In ihrer Mimik und ihren Gesichtsausdrücken spiegeln sich die Ereignisse wider, ihre Gestik erzählt vom Grad ihrer emotionalen Involviertheit und ihre äußere Erscheinung oder ihr Kleidungsstil geben Hinweise auf die Art der Veranstaltung.

Gerhard Silber ist ein Maler des Realismus in Schwarz-Weiß. Er nutzt überwiegend monochrome Farbtöne, die an Schwarz-Weiß-Fotografien erinnern. Mit dem Verzicht auf die reale Farbigkeit verleiht er den Figuren eine entrückt skulpturale Aura und vermeidet, dass Farbigkeit von der Gestik und Mimik der Dargestellten ablenkt. Silber erzielt so eine enorme Verdichtung der emotionalen Ausdrucksstärke ihrer Gesichter. Während die Gemälde aus der Ferne nahezu fotorealistisch wirken, ist die Pinselführung bei näherer Betrachtung klar erkennbar und der malerische Duktus lässt sich nicht leugnen – ein wunderbares Spiel mit den Möglichkeiten der Malerei. Was aus der Ferne realistisch erscheint, wird zur reinen Malerei, wenn der Betrachter sich der Leinwand nähert. Gerhard Silber bevorzugt dabei das Arbeiten mit einem breiten Pinsel, eine detailreiche Feinmalerei liegt ihm fern.

 

                               

                                                 Beispiele zum Pinselduktus: Details aus „Anmutung, Gewissen & Macht“, Brot & Spiele VII“, „Ladylike“ und „Brot & Spiele IX“ (v.l.n.r.)

 

Primäre Bildquellen für die Gemälde sind Fotografien oder Film-Stills. Gerhard Silber nutzt ausschließlich vorhandenes Bildmaterial und jede dargestellte Person ist ein individueller Mensch. Folglich sind die Gesichter nicht idealisiert oder überzeichnet, sondern im Moment eines absolut authentischen körperlichen Ausdrucks festgehalten. Zugleich sind es keine eindeutig identifizierbaren Personen – manche stellt er gar mehrfach in einem Gemälde dar, wie in der Serie Brot und Spiele –, sondern sie repräsentieren allgemeingültige Typen.

Im Ergebnis zeigen Silbers Gemälde eine kleine Gesellschaftsgeschichte der westlichen Welt. Die Gemälde kommentieren auf überspitzte Weise gesellschaftliche Rollenspiele, Gruppenverhalten oder kollektive Erregung. Mit einer gewissen Theatralik rücken die agierenden Darsteller auf engstem Raum zusammen. Die Sprache des Künstlers ist die Körpersprache. Und diese Sprache ist der unmittelbare, unverstellte Ausdruck der Akteure – wahrhaftiger, realistischer und ehrlicher geht es nicht.

Silbers Realismus wirkt auf den ersten Blick oberflächlich: Oftmals stehen schöne Menschen in guter Kleidung im Mittelpunkt seiner Darstellungen. Aber genau diese Oberfläche entlarvt und enthüllt der Maler. Dieser Realismus in elegantem Schwarz-Weiß ist das geeignete Mittel, um den Finger in die Wunde des Zeitgeschehens zu legen. Silbers Bilder sind erst auf den zweiten Blick provokant und herausfordernd. Unterschwellig driftet er bei manchen Figuren ins Karikierende ab, aber nur dadurch, dass er die Wirklichkeit schonungslos wiedergibt. Als genauer Beobachter und sanft spöttischer Chronist seiner Zeit hält er dem Betrachter den Spiegel vor.

Alexandra Simon-Tönges, M.A.
Kunsthistorikerin

 

Brot & Spiele

In der Serie Brot und Spiele zeigt Gerhard Silber unterschiedliche Episoden und Kompositionen mit jubelnden, applaudierenden, skandierenden, staunenden Menschenmengen. Mit geringer räumlicher Tiefe und jedem die gleiche Aufmerksamkeit schenkend, zeigt Silber die Zuschauer uns unbekannter Ereignisse. Die Darstellung konzentriert sich völlig auf die agierenden Personen, die vor einem raumlosen Hintergrund dicht gedrängt zusammenstehen. Sie bilden eine Gruppe und bleiben doch als Einzelpersonen mit unterschiedlichen Reaktionen eigenständig wahrnehmbar. Sie sind begeistert, gelangweilt, erschrocken, entsetzt, sie lachen, staunen, fluchen.

Gerhard Silber vermeidet es, genaue Orts- und Zeitangaben mitzuliefern oder Ereignisse zu benennen. Durch das Weglassen des konkreten Aktionsraumes wird das Narrative und Anekdotische auf ein Minimum reduziert – zugleich gewinnt das Innenleben, die Gefühlswelt und der mimische Ausdruck der Dargestellten an Bedeutung. Die Gesichter werden zur Bühne des Geschehens. Die Bilderzählung wird vollständig auf die Personen, ihre Mimik und Gestik verlagert. Silbers Aufmerksamkeit gilt damit nicht nur der äußeren Wirklichkeit, sondern vor allem der inneren, unmittelbar geäußerten Emotion.

Die Deutung steht und fällt mit dem Assoziationsspielraum des Bildbetrachters. Die Zuordnung zu Ereignissen oder sozialen Gruppen läuft gemeinhin über äußerliche Merkmale und das Verhalten der Personen. Dabei fließen individuelle Erlebnisse, medial vermittelte Bilder und gesamtgesellschaftliche Strömungen in die Interpretation mit ein. In der Serie Brot und Spiele zeigt Silber ein breites Spektrum an sozialen Gruppen. Betrachten die Herren mit schicker Sonnenbrille und die Damen mit Perlenkette und Hut in Brot und Spiele I vielleicht eine Flugshow? Und sind die glatzköpfigen Männer mit Bierflaschen in Brot und Spiele VI etwa Teilnehmer einer Pegida-Demonstration oder eines Querdenker-Spaziergangs? Oder stehen sie im Fußballstadion auf der Tribüne? Kleidung, Haltung und Haarschnitte dienen als Anhaltspunkte für eine erste soziale Zuordnung. Das konkrete Ereignis bleibt offen, aber die Kategorisierung und Zuordnung erfolgt dennoch – und sei es über Vorurteile.

 

                      

                                       Brot & Spiele I, 2018                                                                     Brot & Spiele VI, 2019                                                 Anmutung, Gewissen & Macht, 2021

 

Welchem Star jubeln die strahlenden Gesichter der jungen Frauen im Gemälde Anmutung, Gewissen und Macht zu? Der Kleidungsstil passt in die 30er bis 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Aber die begehrenden Blicke eines Fans scheinen zeitlos zu sein. Die Vorlage für das Gemälde ist eine Fotografie, die während des Dritten Reiches entstanden ist und die Hand am rechten Bildrand gehört Adolf Hitler. Die damals maßlose und oft unreflektierte Begeisterung für die Ideen des Nationalsozialismus lässt an die Mechanismen der „Mobilmachung“ der Massen denken, wie beispielsweise das ständige Wiederholen ewig gleicher Thesen. Und so können sogar offensichtliche Lügen zu Wahrheiten werden. Dieses Phänomen ist uns nicht unbekannt: Auch heute bewegen Populisten die Massen nach diesem Muster.

Gerhard Silber fasst die Gemälde dieser Serie folgerichtig unter dem Titel Brot und Spiele zusammen. Der Ausdruck „Brot und Spiele“ geht auf Äußerungen des römischen Dichters Juvenal zurück, der zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus in einer Satire beklagt, dass sich das römische Volk nicht mehr für die Politik, sondern nur noch für Brot und Spiele interessiere. Bis heute sind uns diese Strategien der Förderung von Konsumismus und leichter Unterhaltung zur Ablenkung von wirtschaftlichen oder politischen Realitäten bekannt. Silber nutzt diesen provokanten Titel, um die Aufmerksamkeit des Betrachters auf diese Mechanismen zu lenken. Und damit dienen die Gemälde auch als Projektionsfläche für unser eigenes Verhalten und als Angebot, dieses zu reflektieren.

Alexandra Simon-Tönges, M.A.
Kunsthistorikerin

 

Hunting

Gerhard Silber fasst seine Gemälde gerne zu Serien zusammen, mit dem Effekt, dass eine Reihe von thematisch ähnlichen Szenen wie eine Erzählung gelesen werden kann. In der Werkreihe Hunting dreht sich das Geschehen um das „Big Business“.

 

                                                                                                                                                            Money – Money – Money, 2018

 

Es ist eine männliche Welt, Frauen kommen hier nicht vor. Insbesondere in den Gemälden Money – Money – Money I und II von 2018 sind es Männer in Businesskleidung, in selbstgefälligen Posen, die Macht und Wichtigkeit ausdrücken. Sie freuen sich und beglückwünschen sich zum erfolgreichen Börsenstart ihres Unternehmens. Silber setzt die Männer formatfüllend und lebensgroß ins Bild, der Ort ist unbekannt, sie beherrschen mit ihrer ganzen Körperlichkeit das Geschehen. Die gesamte Szene wirkt wie ein spontaner Schnappschuss: die angeschnittenen Köpfe, der ausschnitthafte Charakter der Szene, die bewegte Gestik des Klatschens und das feixende, ausgelassene Lachen steigern den Eindruck einer Momentaufnahme von drei Personen, die sich in unmittelbarer Nähe des Betrachters befinden. Dabei wirken die so alltäglichen Gesten und Gefühlsäußerungen (wie das Lachen und Klatschen) wenig mitreißend und hinterlassen ein befremdliches Gefühl. Durch die großen Formate ist eine aufdringliche Wirkung der Personen unvermeidlich, der Betrachter scheint zum Zeugen eines wichtigen Ereignisses zu werden. Dabei wirken diese Männer hier nicht wie ernsthafte Unternehmer, die hehre Ziele verfolgen und im Bewusstsein ihrer hohen Verantwortung für ein Unternehmen agieren. Ihre Gesichter wirken vielmehr grimassenhaft, fast skurril. Das Gebaren erinnert an die Siegerposen nach einem sportlichen Wettkampf oder einem Spiel. Unterschwellig übt Silber auf diese Weise Kritik an einer kapitalistischen Wirtschaftswelt, in der der Wert eines Unternehmens nur noch vom Aktienkurs bestimmt wird.

 

                      

                                                                                     Hunting I, 2019                                                                                                                                          Hunting II, 2019

In Hunting I und Hunting II wählt Gerhard Silber das Börsenparkett als Schauplatz des Geschehens. Dicht gedrängt stehen die Börsenhändler beieinander, das Bildgeschehen wird beherrscht von ihren Gesichtern und Händen. Sie agieren wie hochkonzentrierte Dirigenten eines Orchesters, die zeigen, andeuten, Hinweise geben. In ihren Gesichtern spiegeln sich die Emotionen wider: Aufregung, Euphorie, Verzweiflung, Ratlosigkeit, Frust, Angst. Das ganze Spektrum der nervösen Anspannung, die sich breit macht, wenn es auf dem Börsenparkett heiß hergeht, ist hier ablesbar. Die eifrig gestikulierenden Händler erscheinen wie ein Stimmungsbild des Handels – und zugleich wie die Darsteller eines arrangierten Theaterstücks. Authentizität und Inszenierung gehen hier fließend ineinander über.

Auch wenn der Börsenhandel heute weitgehend digitalisiert ist und elektronisch abläuft, ist der Präsenzhandel noch nicht verschwunden. Es drängt sich die Frage auf, ob der Mensch, der als Repräsentant des Handels auf dem Börsenparkett steht, heute nur noch als Symbolfigur fungiert. Während weltweit vernetzte Computersysteme den Börsenhandel übernommen haben und den physischen Ort nicht mehr bräuchten, machen die Menschen auf dem Parkett das Börsengeschehen sichtbar und verleihen der globalen Finanzwelt körperliche Präsenz. Hier wird deutlich, dass der Realismus des Malers nicht darauf abzielt, die Oberfläche so naturgetreu wie möglich wiederzugeben, sondern er will enthüllen, entlarven, vielleicht sogar bloßstellen. Auch der Titel Hunting – englisch für Jagd oder Jagen – deutet eine kritische Haltung des Künstlers an. Das Ziel dieser Jäger ist Macht, Anerkennung, Reichtum.

Und wenn die Jagd wenig erfolgreich verlaufen ist, folgt auch schon mal die Ernüchterung nach der Euphorie. So zumindest könnte die sechsteilige Arbeit Die Verkündigung im Gesamtkontext der Hunting-Werkreihe gelesen werden. Thematisch ebenfalls im Geschäft Unternehmen Business-Umfeld angesiedelt, zeigt Gerhard Silber die Protagonisten als Rückenfiguren. Eng gedrängt stehen Männer in hellen Anzughemden und dunklen Hosen entlang einer Fensterfront. Die Räumlichkeit wird nur durch die Rückenfiguren definiert, der Hintergrund bleibt raumlos dunkel. Lediglich die weißen Fensterrahmen an den Seiten und am unteren Rand deuten die vordere Raumgrenze an. Die geschlossene Männer-Reihe erlaubt keinen Einblick ins Geschehen und der Betrachter erfährt nicht, welchem Ereignis die Dargestellten beiwohnen. Während die Rückenfigur in der Malerei häufig als Bindeglied zwischen Bild und Betrachter fungiert und den Betrachter in das Bildgeschehen hineinführt (wie bei Raffael oder Caspar David Friedrich), bleibt der Betrachter hier außen vor.

 

Die Verkündigung, 2015

 

Die Haltung der Anwesenden suggeriert, dass sie aufmerksam zuhören. Gibt es erfreuliche Neuigkeiten? Wird ein Erfolgserlebnis verkündet? Oder wird von geschäftlichem Misserfolg berichtet? Das bleibt offen. Auch der Titel Die Verkündigung lässt großen Interpretationsspielraum: Mit einer Verkündigung kann ein wichtiger Sachverhalt kundgetan werden, aber auch – wie im christlichen Sprachgebrauch üblich – eine frohe (Glaubens-)Botschaft angekündigt werden. Die Art der Botschaft lässt sich hier nur an der Körperhaltung der Dargestellten ablesen. Und es ist bemerkenswert, wie aussagefähig eine Rückenansicht sein kann, wenn das Gesicht verborgen bleibt. Ob hier eine nervöse Anspannung oder große Gelassenheit spürbar werden, bleibt letztlich dem Betrachter überlassen.

Alexandra Simon-Tönges, M.A.
Kunsthistorikerin

 

Bomb Watchers

Frühe 50er-Jahre, im Südwesten der USA. Die Szene erinnert an Besucher in einem Kinosaal: Männer mittleren Alters sitzen bequem in hölzernen Sesseln, sie tragen schwarze Brillen, die an 3D-Kinobrillen erinnern und schauen mit ernsten Gesichtern in dieselbe Richtung. Szenenwechsel. Juli 1957, Nevada, USA. Fünf Männer stehen nebeneinander und schauen in den Himmel. Mit den Händen schirmen sie ihre Augen gegen das helle Licht ab. Der Betrachter erfährt nicht, was die Dargestellten betrachten, aber gefährlich oder gar bedrohlich scheint es nicht zu sein. Und doch: Die auf den ersten Blick so harmlos wirkenden Szenen in Gerhard Silbers Gemälde Bomb Watchers III und Bomb Watchers V zeigen Männer – hohe Offiziere der US Army, VIPs, Soldaten und Zivilisten –, die Zuschauer eines Atombombentests sind.

Gerhard Silber thematisiert in der Serie Bomb Watchers die US-amerikanischen Atombombentests, die jahrelang auf Atollen im Pazifik und im Bundesstaat Nevada durchgeführt wurden. Als Vorlage für die Gemälde verwendet der Künstler zeitgenössisches Foto- und Filmmaterial, das die Beobachter der Tests zeigt.

 

          

                                                                                                     Bomb Watchers III, 2014                                                                                                 Bomb Watchers V, 2015

 

Konzentriert und doch in entspannter Haltung erwarten die Dargestellten das „Schauspiel“, das sich ihnen nach Zündung der Bombe bieten wird. In Las Vegas wurden die Tests in den 50er-Jahren gar als Touristenattraktion angepriesen, Bomb Party und Atomic Drinks inklusive. Hier betrug die Entfernung zum Ort der Detonation etwa 100 Kilometer, doch bei vielen Tests befanden sich die Beobachter in einer absurd geringen Entfernung von wenigen Kilometern zum Testgelände. Die für die Tests zuständige Atomic Energy Commission (AEC) versicherte den Zuschauern und Bewohnern im Umkreis immer wieder, dass keine Gefahr für die Gesundheit bestehe – und das nach den Verwüstungen, die die Atombomben in Hiroshima und Nagasaki angerichtet hatten!

Trotz der realistischen Malweise geht es dem Künstler nicht nur darum, die Realität zu zeigen. Er taucht die Szenerie in eine kühle und gedeckte Farbigkeit, was ihr eine nüchterne Distanziertheit verleiht und widerspiegelt, wie die AEC ohne Rücksicht auf die Gesundheit der freiwillig Anwesenden oder der unfreiwillig beteiligten Anwohner der Testgebiete agierte. Während Silber in vielen seiner Gemälde gerne emotionsgeladene Gesichter sprechen lässt, wirken die Dargestellten hier eher unbeteiligt. Die Gestik ist sehr reduziert, ihre Gesichter zeigen wenig individuelle Züge, Ausdruck dafür, dass sie für die anonyme Masse stehen, die ahnungslos einer nachhaltigen nuklearen Gefahr ausgesetzt wird.

Die ruhige und entspannte Haltung der Zuschauer kann als Ausdruck des Vertrauens in die Beherrschbarkeit einer gefährlichen Technologie gelesen werden. Dies ist ein Thema, das heute noch relevant ist, auch wenn die Gefahr eines Atomkriegs heute wesentlich geringer ist als während des Kalten Krieges in den 1950er-Jahren. Silbers Gemälde zitieren historische Ereignisse, die sogleich Fragen nach dem heutigen Umgang mit atomarer Technologie implizieren. Beispielsweise drängt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Einstufung der Atomkraft als eine nachhaltige Energiequelle durch die EU-Kommission auf.

 

Sky Ride, 2021

 

Der Einzelne steht dieser Gefahr – und meist auch der politischen Entscheidung – machtlos gegenüber. Dieses Ausgeliefertsein findet seinen Ausdruck im Gemälde Sky Ride. Ausgangsbasis für dieses Gemälde sind zwei verschiedene Fotografien, die der Künstler zusammenfügte: die sieben stehenden Männer beobachten einen Atombombentest und die sich wegduckenden Männer im Vordergrund entstammen einer Fotografie, die während des Jugoslawienkriegs aufgenommen wurde. Völlig schutzlos sind sie einer Gefahr ausgesetzt, die sie nicht selbst herbeigeführt haben. Der Titel – angelehnt an die Himmelfahrt Christi – und die Anzahl der Männer lädt die Szene allegorisch auf. Jedoch bleibt bei diesen zwölf „Aposteln“ fraglich, welche Botschaft sie weitertragen und ob dies eine frohe Botschaft sein wird.

Alexandra Simon-Tönges, M.A.
Kunsthistorikerin

 

Auszug aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung „Im Wandel“, Kunstverein Wörth, 2023 (Bilder siehe „Ausstellungsansichten“)

Schon auf der Treppe begegnen uns eindrucksvoll und plakativ seine Personnagen in intensivem blau, schwarz, grau und weiß. Schwer ruht das Haupt das die Krone drückt – vor allem durch einen selbst gekrönt. Bei  Einem ist das Innehalten deutlich zu sehen, doch beim Zweiten wäre ich mir da so gar nicht sicher – fast schon mit zynischem Blick – ist es ein Aufsetzen eines Goldenen Hutes – in optischer Reminiszenz an bronzezeitliche oder buddhistische Kunst. Perfekt akzentuiert und gehängt dazu – die ihm zujubelnde Menge der Anmut, Gewissen und Macht – Hungrigen und doch fast schon als die, der Huldigung des goldenen Kalbes – Hörigen – zu bezeichnen, so scheint es. In welchen Kontext die Darstellungen zu verorten sind, bleibt zu vermuten. Im Detail vielleicht zu erkennen, ist es jedoch bewusst offen gelassen. Eventuell ist es auch ein universales Geschehen, chronologisch variabel versetzbar? In Opposition dazu zeigen sich die scheinbar Revoltierenden gegenüber – Brot und Spiele – Diptychon der Aggressivität und Agitation. Vermeintlich allein im Anschauen bedrohlich, so denkt man, doch auch hier…. ist sich nicht ganz sicher ob der Intentionen. Sind es Hooligans, oder Rechte, oder welcher Mob ist das jetzt ganz genau? Ist doch die Dynamik und überbordende Aufregung – oder ist es gar Feindseligkeit? – drastisch und wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht. Man vermeint fast das Elektrische im aufgeladenen Stimmungsbild zu fühlen und das Skandieren der Menge zu hören. Gleichermaßen bei den drei Revoluzzern des Treppenaufganges – welche Miliz ist das denn nun? – Talibs – Guerilla – ob links ob rechts ob politisch oder religiös motiviert – man könnte sie in allem einordnen – jegliche Konflikte der letzten Jahrzehnte sind unzweifelhaft bildlich abgedeckt. Das genau macht es so interessant. Gerhard Silber vermag es, ein Szenario zu kreieren, welches Optik und Akustik schafft zu vereinen, auch ohne letztere verfügbar zu haben. Er bildet nicht das eigentliche Geschehen ab, sondern die Reaktion der Menge – das Wahrnehmen eines Ereignisses – im Blick des Einzelnen – gesammelt als kollektives Erleben – im Spiegel des persönlichen Ausdrucks. Frucht einer fundamentalen und universalen Erkenntnis, denn Wahrheit und Realität ist nie objektiv. Sie ist immer gefärbt von der individuellen Sicht, dem was der Einzelne für sich gelten lässt.

Evelyn Hoffmann, M.A.

Kunsthistorikerin

 

Featured Artist – Galerie Art.Salon

Die figurativen Darstellungen von Prof. Gerhard Silber sind Genrebilder des kollektiven Staunens. Sie zeigen meist kleine Gruppen von Menschen, die auf ein historisch oder individuell herausragendes Ereignis wie den Start einer Rakete, die Explosion eines Atombombentests oder den Auftritt einer berühmten Persönlichkeit reagieren. Das Geschehen selbst findet außerhalb des Bildraumes statt und kann vom Betrachter nur vermutet werden.

Kontrastreich, oft in Schwarz-Weiß gehalten und mit strenger Fokussierung auf die Personen, überhöhen die ausdrucksstarken Darstellungen die Szene, verdeutlichen auf brillante Weise die Spannung zwischen Schrecken und Begeisterung und glorifizieren das ängstliche Staunen als unvergessliches Ereignis. Damit wird die spontane Verbrüderung von Massen angesichts äußerer Ereignisse kritisch hinterfragt – eine menschliche Eigenschaft, die Nähe und Solidarität innerhalb der Gruppe, aber auch Ausgrenzung und dumpfe Begeisterung für die eigene Hysterie gegenüber der Außenwelt erzeugen kann – heute aktueller denn je.

Dr. Felix Brosius, Galerie Art.Salon